Joachim Penzel
Die Poetik von Zeit und Raum in Bildern des Erinnerns
zu einem Zeichnungszyklus von Edgar Knobloch
In den bildenden Künsten des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts haben
sich Bedeutung und Gebrauch des Begriffs Zyklus stark geändert. Seit dem
Aufkommen der Avantgarden in dieser Zeit bezeichnet er eine Folge thematisch
zusammengehörender, manchmal aber auch nur lose verbundener Werke.
Der ursprüngliche Bezug, den bildkünstlerische Zyklen zu regelmäßig
wiederkehrenden Zeitereignissen des Tages-, Jahres-, aber auch des
Lebenslaufes seit dem Hochmittelalter, insbesondere aber seit der Barockzeit
herstellten und der eine gleichsam intellektuelle wie sinnstiftene Verbindung der
Kunst mit theologischen, philosophischen und lebensweltlichen Problemen der
jeweiligen Gegenwart ermöglicht hatte, spielt im aktuellen Kunstschaffen kaum
noch eine Rolle. Umso erstaunlicher ist es, dass eine umfangreiche Werkgruppe
von Zeichnungen, die Edgar Knobloch im Jahr 2011 im neu eröffneten
Forschungszentrum der Friedrich-Nietzsche-Gesellschaft in Naumburg unter
dem Titel „Gegend und Gedanke“ präsentierte, die immanente Zeitproblematik
des Zyklischen in seinen unterschiedlichen Dimensionen auslotete, indem hier
medienästhetische, kulturgeschichtliche, biografische und naturhistorische
Aspekte in einem komplexen, in seinen Details letztlich nicht vollständig
aufzulösenden und daher rätselhaft bleibenden Beziehungsnetz ausgebreitet
wurden.
Auf den ersten Blick wirken die samtartig mit weicher Kreide gezeichneten, stark
divergierenden Motive dieses annähernd 30 Arbeiten umfassenden Zyklus
geradezu willkürlich verbunden, aber bei mehrfachem Abschreiten der Bilderfolge
beginnt man zwischen den verschiedenen Landschaftsprospekten, den bis zur
Unkenntlichkeit vergrößerten Naturdetails, den fragmentierten Ansichten von
Bauwerken und Denkmalen sowie den in einem lichtlosen Grau sich auflösenden
Nachbildern zweier historischer Kinder- und Jugendbildnisse langsam einen
Zusammenhang zu ahnen. Diese höchst disparaten Bildmotive verbindet eine
durch die grobkörnige Zeichnung erzeugte Unschärfe, in deren Folge alle
dargestellten Bildgegenstände in derselben optische Ebene zu liegen scheinen,
als würde ein halbtransparenter Grauschleier die Sicht einschränken. So baut
sich zwischen dem Betrachter und den einzelnen Motiven eine merkwürdige
Distanz auf, die zwar auf einem bildräumlichen Eindruck beruht, dennoch
zeitlicher Natur ist. Im samtenen Grund des Papiers eröffnet sich eine geradezu
historisch anmutende Ferne, die zu überbrücken wir sehend, kombinierend und
assoziierend als Publikum aufgefordert zu sein scheinen. Neben dieser
melancholisch anmutenden Entrückung, die sich bei der Betrachtung dieser
Zeichnungen einstellt, spürt man alsbald auch einen feinen Rhythmus in der
gesamten Bilderfolge, der sich aus dem wohlkalkulierten Wechsel von
landschaftlichen und baulichen Prospekten mit flächig ornamental angelegten
Kompositionen ergibt, die die scheinbar lose Bildreihe in einzelne Sequenzen
zerlegen und somit eine innere Ordnung aufbauen. In diesem subtilen Gebrauch
der medialen Mittel des zeichnerischen Werkkomplexes verschränkt Knobloch
zwei unterschiedliche Zeitvorstellungen miteinander. Im blassen Grauschleier,
der wie ein Nebel die Motive einhüllt, meint man das unaufhörliche und
gleichförmige Fließen der historischen Zeit zu spüren, das alles Geschehene
unbarmherzig in jene nur noch unscharf wahrzunehmende Vergangenheitsferne
entrückt. In der sequentiellen Ordnung der Motive dagegen erahnt man als
Betrachter jenen zyklischen Charakter der Zeit, der sowohl Natur als auch Kultur
wie ein ewiger Rhythmus eingeschrieben ist.
Knoblochs Bilder wirken aber nicht nur wie Analogien einer sich sowohl
geisterhaft verflüchtigenden als auch einer sich periodisch wiederholenden Zeit.
Die trotz aller Unschärfe sichtbaren und sich daher umso nachdrücklicher
einprägenden Motive verweisen darüberhinaus auf die existentielle
Grunderfahrung, dass dem Menschen kein spezielles Sensorium für die
Wahrnehmung eines wie auch immer strukturiert verlaufenden Zeitlichen
gegeben ist, sondern dass dieses nur als Folge von Ereignissen im Raum und
somit als eine körperlich geistig vermittelte Ortserfahrung möglich ist. In seinem
Buch über „Die Räume der Maler“ hat der Kunsthistoriker Wolfgang Kemp
verdeutlicht, dass aus einer anthropologischen Perspektive der Raum das
Medium der Zeiterfahrung darstellt und dass daher das Zeitliche des Seins sich
folglich nur als ein lokalisiertes Dasein begreifen lässt. Martin Heidegger hat in
seinem Essay „Hebbel – der Hausfreund“ diese existentielle Verbindung von Zeit
und Raum mit jenen beiden das menschliche Leben schicksalhaft bestimmenden
Aktivitäten des Wohnens und des Wanderns identifiziert: „Denken wir das
Zeitwort wohnen weit und wesentlich genug, dann nennt es uns die Weise, nach
der die Menschen auf der Erde unter dem Himmel die Wanderung von der
Geburt bis in den Tod vollbringen.“ Die hier thematisierte zeitliche Bewegung des
Durchwanderns des Lebenszyklus wird folglich rhythmisiert durch Stationen des
Wohnens, das heißt, der transzendentale Charakter der Zeit ist nur in der
Immanenz einer ortsgebundenen Leiblichkeit erfahrbar und daher spielen
Landschaften, Gegenden und Ortschaften als sogenannte Lebensschauplätze
für die Konstituierung jeder Art biografischer Identität und historischer Erinnerung
eine entscheidende Rolle.
Vor diesem Hintergrund erscheinen Knoblochs Bildfragmente verschiedenster
Landschaften und Orte nicht etwa als eine ins Biografische gewendete „Suche
nach der verlorenen Zeit“, mit der das Vergangene in die erzählende bzw.
bildliche Erinnerung zurückgeholt wird wie ein abhanden gekommener
Gegenstand, sondern als Suche nach den Signaturen der Zeit in konkreten
Räumen, die mit der eigenen Biografie und ebenso mit der das eigene Sein
bestimmenden Kultur wie ein unsichtbares Band verbunden sind. Die Identität
der jeweils in den einzelnen Zeichnungen zur Anschauung gebrachten Orte
erschließt sich nach einem schlichten indexikalischen Prinzip über die Bildtitel –
„Kyffhäuser“, „Schulpforta“, „Terezín“ (Theresienstadt) und „Sils“ benennen
prominente Orte, „Park“ oder „Am Fluss“ dagegen eher Allerweltsplätze. Die
Aussagekraft, ja Beredsamkeit vor allem der konkreten Ortsangaben, die wie
Stichwortgeber deutscher Geschichte fungieren, steht in einem merkwürdigen
Spannungsverhältnis zu den anonym wirkenden Ortsdarstellungen, die,
gemessen an der von den Worten freigesetzten Assoziationskraft, schweigsam
bleiben. Es scheint, als hätte die vergehende Zeit die einstmals an den jeweiligen
Orten stattgefundenen Ereignisse in eine schier unüberbrückbare Distanz
gerückt, so dass jedes Geschehen selbst durch den sich erinnernden und
gedenkenden Verstand nicht mehr erreicht werden kann. Das Vorort-Sein oder
auch nur die aktuelle Ansicht eines Ortes bezeugt eine Gegenwart, in der das
Vergangene ausgelöscht und unwiederbringlich verloren ist. So gleicht das
Erinnern einem verzweifelten Herumstochern in einem Trümmerhaufen, an dem
sich überkommenes Wissen, aber auch fantasievolle Projektionen entladen. In
der Divergenz der im atmosphärischen Grauschleier eingehüllten Bilder und den
historisch teils schwergewichtigen Ortsangaben dehnt Knobloch die reine
Materialität seiner Zeichnungen in den inneren Bild- und Wissensraum des
Betrachters aus. So erfüllt sich die im Ausstellungstitel zu erahnende Einsicht,
dass „Gegend und Gedanke“ sich wechselseitig bedingen, in unmittelbarer
Weise. Wie ein Kommentar aus dem Off läuft nach dem Blick auf die Bildtitel
während des Betrachtens dieser Landschaftszeichnungen ein innerer Monolog,
der die verschiedenen mit den Orten assoziierten Ereignisse wachruft, im
Fortschreiten von Bild zu Bild nach einer historischen Ordnung sucht und
schließlich unterschiedliche Sinn- und Zeitebenen des ganzen Zyklus auszuloten
beginnt.
Es ist dies zunächst eine ganz deutsche Geschichte, die sich im Dahingrübeln
vor den melancholisch stimmenden grauen Bildern Knoblochs eröffnet. Eine
Geschichte, die im Reich der Mythologie beginnt, mit der Kyffhäusersage, die
von der Rückkehr des Kreuzzug-Kaisers Friedrich Barbarossa und der
Wiederaufrichtung des verfallenen Reiches berichtet, das Jahrhunderte später
dann ganz triumphal mit dem neuen Kaiserreich unter Wilhelm I. identifiziert
wurde, und das jenen schreckenerregenden Aufstieg Deutschlands eingeleitet
hat, der in zwei Weltkriege mündete und in den nationalsozialistischen
Vernichtungslagern, zu denen das Sammel- und Durchgangslager Teresín eine
Art Vorhof war, sein unrühmliches Ende fand. Diese Geschichte der Macht, die
ein ganzes Volk systematisch in die Maschinerie der Zerstörung und Vernichtung
getrieben und über Generationen, wenn nicht gar – wie Thomas Mann bemerkte
– auf ewig mit Schuld beladen hat, wird in Knoblochs Zyklus verbunden mit einer
Geschichte des Geistes und der Kunst. Die Einstreuung biografischer Stationen
von Friedrich Nietzsche ist mehr als nur eine Reminiszenz an den Naumburger
Ausstellungsort, denn Leben und Schaffen des exzentrischen Philosophen sind
eingebettet und schicksalhaft verbunden mit jenem Aufstieg Deutschlands zur
Weltmacht. Da ist die Jugend im preußischen Eliteinternat Schulpforta bei
Naumburg, in dem für Nietzsche in einer geradezu klösterlichen Romantik das
Wissensfundament seines späteren Denkens gelegt wurde, zugleich musste er
hier auch den soldatischen Drill der preußischen Erziehungsanstalten über sich
ergehen lassen, was ihm später alles Militärische „vergraulte“ und – wie er
einmal schrieb – „aus dem Heimatland hat flüchten lassen“. Während
Deutschland zur europäischen Führungsmacht aufstieg und sich im Inneren
nationalistisch konsolidierte, irrte Nietzsche von Krankheit und Selbstzweifel
geplagt durch die Welt und rang, wie ein Eremit lebend, um ein radikal neues
Denken, das ganz der Souveränität des Individuums gewidmet sein sollte. In den
Bergen bei Sils-Maria, wie Nietzsche 1879 notierte – „6000 Fuß übem Meer
jenseits von Mensch und Zeit“ –, fand er, mit unermüdlichem Eifer beim Wandern
in seine Notizbücher kritzelnd, nicht nur zur poetischen Sprache seiner sich nun
entfaltenden Existenzphilosophie, vielmehr inspirierten die karstigen Täler, die
einsamen Hochplateaus und weiten Ausblicke auch jene Höhenlage seines
Denkens, aus denen der „Zarathustra“ als sein Hauptwerk hervorgehen sollte.
Aus der Engadiner Bergwelt wehte jener rebellische Geist herab, der eine ganze
Generation von Künstlern und Freidenkern zum autonomen Dasein motiviert und
der sein verzerrtes Nachbild noch in jenem Führerprinzip gefunden hat, mit dem
im Nationalsozialismus ein ganzes Volk hörig gemacht wurde.
Es ist aber nicht allein diese tragische Verkettung einer unbeabsichtigt und
gewiss wider Willen in ihr Gegenteil verkehrten Emanzipationsbewegung, die im
„Nietzsche-Motiv“ in Knoblochs Zyklus anklingt, es ist ebenso die als
Selbstvergewisserung des Künstlers zu verstehende Frage nach
Sinnbestimmung, Wirkung und Verantwortung des kreativen Schaffens sowie der
damit verbundenen Lebensweise, der Selbststilisierung und
quasimythologischen Verbrämung der außerhalb der kollektiven Normen ganz
einsam geführten Künstlerexistenz. Gewiss ist Nietzsche heute nicht mehr das
heroische Vorbild, dem noch um 1900 eine ganze Künstlergeneration die
Legitimation zur Selbstbestimmung zu verdanken hatte, aber der einsame
Philosoph taugt auch heute noch als ein geisterhaftes Spiegelbild, um das
Selbstverständnis und die soziale Position von Künstlern kritisch zu reflektieren.
Von aktuellem Interesse mag dabei die von Nietzsche zunächst ästhetisch
konzipierte neue Ethik sein: „Das Individuum lebt in der Vereinzelung, während
der dionysische Mensch sich in die Allgemeinheit der Menschen zurückverbindet
zum Genießen, zu Fest und Freude ... zur vielfältigen Erkenntnis durch viele
Augen.“ Die hier heraufbeschworene pluralistische Gemeinschaftsbildung von
souveränen Individuen, die jeden normierenden Zwang herrschaftlicher
Institutionen, seien es Staat, Familie oder traditionelle Kirchen, überwunden
haben, kann man vom heutigen Standpunkt aus wie ein pathetisch formuliertes
Programm für jene Emanzipationsbewegung verstehen, die in den letzten
einhundert Jahren sukzessive die gesamte westliche Gesellschaft zu
durchdringen begonnen hat. Daher können wir uns heute durchaus als Erben
dieser in der Bismarck-Zeit noch geradezu utopisch anmutenden Ethik des
Zarathustra empfinden. Es ist also ein sich selbst vergewisserndes Zurückgehen
– fast möchte man sagen: ein Heimkehren – zu den Ursprüngen eines uns
mittlerweile selbstverständlich erscheinenden Weltbildes, das Knobloch mit
seinen wie aus einer dunklen Vergangenheit auftauchenden Zeichnungen anregt.
Hier klingt eine kreisende Bewegung des Suchens an, mit der sich der Zeichner
– wie er selbst sagt – als „Nachreisender“ früherer Menschen sieht, die auf sein
gegenwärtiges Selbstverständnis einen merkwürdig starken Einfluss ausüben.
Das sind aber nicht nur die namhaften sondern ebenso die unbekannt
bleibenden Einzelnen, die an nahen, teils fernen Orten nach ihm zu rufen
scheinen. Die hier als zeichnerisches Konvolut ausgebreiteten Zeugnisse der
Künstlerreise entsprechen zwar einer Bewegung im Raum, diese führt aber
forschend und sehnend zurück in eine vor dem eigenen Leben liegende Zeit, die
nur noch als an fernen Orten abgelagerte Sedimentschicht auffindbar ist. Der
dabei entstehende zeichnerische Zyklus gleicht einer die Zeitläufte
durchmessenden Rückw.rtsbewegung, die – teils zufällig, teils planmäßig – jene
im Verborgenen wirkenden Faktoren zu Tage fördert, die Denken und Empfinden,
ja weite Bereiche der psychischen Disposition von Menschen so nachhaltig
beeinflussen. Man mag auch in diesem Fall den Künstler nicht so sehr als
ausschließlich in seine eigenen Probleme verstrickt betrachten, sondern als
exemplarischen Einzelnen, der sich kollektiven Problemlagen verpflichtet fühlt.
Der künstlerische Zyklus dient dabei als ein Medium der zwar individuell
motivierten, aber doch öffentlich adressierten Erinnerungsarbeit, mit der die
Suche nach einer gegenwärtigen Identität als Nachwirkung vergangenen Seins
aufgefasst wird. In diesem zeichnerisch fixierten Aufsuchen und Abschreiten der
Schauplätze früherer Lebensschicksale klingt sehr fein und kaum wahrnehmbar
ein weiteres Motiv von Nietzsches ethisch motivierter Geschichtsphilosophie an,
die in verblüffender Weise auf einer zyklischen Zeitvorstellung beruht, nämlich
die für die Hauptwerke „Die fröhliche Wissenschaft“ und den „Zarathustra“ so
wichtige Denkfigur der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“. Diese sollte es dem
Einzelnen ermöglichen, einerseits das eigene gegenwärtige Verhalten als eine
geradezu schicksalhaft wirkende Folge früherer Handlungen zu verstehen.
Andererseits sollte die Einsicht, dass dem aktuellen Tun eine „ewige Wiederkehr“
beschieden ist, zum Prüfstein aller Handlungen werden. Dies ist eine
grundsätzlich ethische Formel, die der vehemente Kritiker jeder Art von
gesellschaftlicher Moral fast scheu und – wie er in verschiedenen Briefen
vermerkt – nur „im Flüsterton“ seinem Publikum zuraunte. Einhundertfünfzig
Jahre später erscheint es angesichts einer ganz und gar im Hier und Jetzt
fixierten Gegenwartsgesellschaft geradezu unmöglich geworden zu sein, eine
solche „Last der Ewigkeit“ noch zu denken. So ähnelt für uns Heutige Nietzsches
mit geheimnisvollem Raunen formulierte transzendentale Ethik dem Kreidestaub,
der kaum spürbar von Knoblochs Blättern rieselt.
Dieser in seiner Motivvielfalt nicht ganz leicht zugängliche Zyklus von
Zeichnungen enthält, vergleichbar mit einem historischen Roman, verschiedene
Geschichten, die sich kreuzen, zu neuen Erzählsträngen verbinden und sich
wechselseitig kommentieren. Das einzelne Bild kann dabei unterschiedliche
Funktionen in verschiedenen Geschichten einnehmen. So sind manche der
realistisch anmutenden Motive durchaus auch allegorisch zu lesen. Über die
beiden historischen Kinder- und Jugendbildnisse, die Ansichten des
Schulpfortaer Gymnasiums, die Engadiner Berge sowie die Darstellung eines
Bunkers in der Normandie und die verfallende Straße in Theresienstadt
entwickelt sich eine geradezu klassisch zu nennende, ganz in realistischen
Darstellungen verborgene Bildfolge des menschlichen Lebenszyklus, der sich in
den unausweichlich zu passierenden Stationen einer engelsgleich unschuldigen
Kindheit, der jugendlichen Initiation in das Erwachsenenleben, den Lehrjahren,
der Reife- oder Schaffenszeit sowie einer Phase des Leidens und des Todes
manifestiert. Derartige Motivketten sind im sogenannten „Entwicklungsroman“
seit Goethes „Wilhelm Meister“ fester Bestandteil literarischer Erzählungen, in
James Joyces „Ulysses“ wurden sie hybrid mit anderen historischen Strukturen
und Lebensmustern verbunden; in der bildenden Kunst der Gegenwart
erscheinen sie eher ungewöhnlich. Diese anthropogene Sinnstruktur verleiht
Knoblochs Zeichnungsfolge das am stärksten zyklische Moment. Es ermöglicht
einen Prozess der Abstraktion von den verschiedenen konkret thematisierten
Geschichten und greift damit aus in eine das ganze menschliche Leben
durchdringende Bewegung, die Heidegger mit dem Begriff des „Wanderns“
umschrieben hatte und die früher als Lebens- oder Heldenreise bezeichnet
wurde. Erst eine derartige Gesamtperspektive verleiht dem individuellen Dasein
Struktur und Sinn und bindet es in die komplexeren Kreisläufe der Natur ein.
Diese durchdringen Knoblochs Zyklus in fast jedem Blatt. Das ewige Werden und
Vergehen hat seine Spuren nicht nur in den Fluss- und Berglandschaften, dem
dichten Blattwerk und den erodierenden Felswänden hinterlassen, sondern
ebenso die Monumente politischer Gedenkpraxis wie das Kyffhäuser-Denkmal
ergriffen und die einst als unzerstörbar geltenden Bunker des Atlantikwalls
entlang der französischen Küste unter der stetigen Einwirkung von Wind und
Wetter langsam in Schuttberge verwandelt. In dieser Präsenz der Entropie, die
sich unausweichlich allen Seins bemächtigt, manifestiert sich ein noch
gewaltigerer, alles menschliche Denken und Handeln überschreitender Kreislauf.
Die hier spürbare von elementaren Kräften bestimmte Naturgeschichte erweist
sich letztlich als der zeitlose Rahmen der Kulturgeschichte. Hier können sich
melancholische Gedanken über die Vergänglichkeit aller kulturellen Güter
anschließen, wichtiger erscheint jedoch die Vorstellung, dass sich die Natur
früher oder später jeden vom Menschen gestalteten Ort zurückholt.
Derartig komplexe Lebenszusammenhänge herzustellen, die das kosmische
Geschehen ebenso wie das individuelle Schicksal erfassen, gehört – wie Werner
Busch in einer Studie zum Verhältnis von „Landschaft und
Ungegenständlichkeit“ gezeigt hat – seit dem späten 18. Jahrhundert zum
wichtigsten Ziel der Gattung Landschaftsmalerei. Mit der Dominanz von Bergund
Flussdarstellungen, von Nah- und Fernansichten der Natur, stellt sich
Knobloch bewusst in diese Tradition und wählt daher auch Bildmotive und
Bildausschnitte, die an bekannte Vorläufer und Vorbilder in diesem Genre
erinnern. Damit wird der gesamte Zyklus von einer Art kunstgeschichtlichen
Grundierung getragen, die die einzelnen Motive und Bildreihen atmosphärisch
durchdringt und in Form indirekter Zitate von der Präsenz früherer Kunst im
gegenwärtigen Bildschaffen zeugt. Knoblochs Engadiner H.henzügen
erscheinen wie Nachbilder von romantischen Bergansichten, die an Caspar
David Friedrichs ideale und ebenso an Caspar Wolfs topografisch exakte
Landschaftsprospekte des Riesengebirges oder der Alpen denken lassen. Hier
klingt jener Naturmystizismus an, dem sich auch der programmatische Atheist
Nietzsche nicht entziehen konnte, als er glaubte, seinen Zarathustra-Stoff auf
den Engadiner Bergesgipfeln wie eine transzendentale Eingebung erhalten zu
haben. In Knoblochs Zyklus finden sich aber ebenso als Homage zu verstehende
Landschaftsausschnitte, die an Gustave Courbets jede sentimentale Stimmung
abweisenden Realismus erinnern, oder Einzelblätter, in deren dekorativabstrakter
Wirkung die strenge Pflanzenornamentik des Jugendstils nachklingt.
Nicht nur im Sinne einer kunstgeschichtlichen Selbstverortung des eigenen
Schaffens sind schließlich die großformatigen Zeichnungen interessant, deren
fast monochrome Flächigkeit einen Bezug zur dekonstruktivistischen Malerei der
Postmoderne herstellt. Diese meist aus mehreren Teilflächen
zusammengesetzten Bilder wirken wie monströse Löcher in Knoblochs Zyklus,
die den Betrachter von der allzu konkreten Bildlichkeit entlasten und zugleich an
die Oberfläche der kleinteilig strukturierten, in feinen Graustufen nuancierten
Zeichnungen heranführt. Was uns hier vor Augen tritt sind keine mit Bedeutung
aufgeladenen Landschaften mehr. Es sind keine Formen, sondern nur noch
Texturen, keine symbolisch lesbaren Zeichen, sondern das pure Rauschen des
grau pigmentierten Flächengrundes. Mit einer derartig ostentativen
Zurschaustellung der schieren Materialität des Bildes hatte bereits die von
Strukturalismus und Poststrukturalismus inspirierte Malerei der 1970er- und
80er-Jahre die Selbstzweifel an der Möglichkeit einer verbindlichen Sinnstiftung
ausgedrückt. Interessanterweise trat sie gerade damit das ästhetische Erbe
Friedrich Nietzsches an, dessen Kritik der gesellschaftlich sanktionierten Moral
bei einer Kritik der etablierten Sprache ansetzte. Seit dieser vehementen Attacke
auf das basale gesellschaftliche Verständigungsmittel erscheinen das Material
der jeweiligen Medien – sowohl Sprache als auch Bild – und die in ihnen zur
Anwendung kommenden symbolischen Topoi als der Rohstoff, aus dem das
Wissen über die Welt nicht nur geformt, sondern ebenso erfunden wird. Mit Blick
auf die Deutungsarbeit jeder Art historisch forschender Kunst hat W. G. Sebald in
seinem Roman „Austerlitz“ bekennend formuliert, dass es aufgrund der
Eigenmächtigkeit unseres sprachlich und bildlich sich konstituierenden Daseins
in der Kunst weniger um „Entziffern als um Chiffrieren der Wirklichkeit“ geht. Die
Deutungsangebote, die ein Autor oder ein bildender Künstler eröffnen, zeugen
also nicht von einer geschichtlichen Wahrheit, sondern entsprechen ästhetischen
Sinnangeboten für gegenwärtiges Leben. Das Schreiben bleibt daher immer ein
Spiel mit der Geschichte – oder, um es mit Blick auf den hier diskutierten
Bildzyklus zu sagen: Das Zeichnen bezeugt die poetischen Möglichkeiten, aus
jenem höchst fragmentarischen Erbe früherer Generationen ein Bild zu machen,
in dem wir uns selbst erkennen.